Public Manager
19.05.2016 | Gesundheitswesen und Hygiene

Technischer Fortschritt auf der Überholspur – wo bleibt die Gesundheit?

Die Digitalisierung prescht voran, schafft neue betriebliche Realitäten, überholt Wissenschaft und Rechtsprechung, fordert Unternehmen, Beschäftigte und nicht zuletzt die Akteure im Arbeitsschutz heraus: 2.402 Fachbesucher machten sich am 10. und 11. Mai auf der Corporate Health Convention in Stuttgart ein Bild von den rasanten Entwicklungen in der Arbeitswelt und ihren Nebenwirkungen auf die Gesundheit. Insgesamt 154 Aussteller stellten innovative Lösungen und Konzepte zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen vor – darunter knapp 20 Start-ups aus der dynamischen Gründerszene.

(Foto: Raf Beckers/spring Messe Management)

Industrie 4.0, Internet der Dinge, selbstorganisierte Produktionssysteme, Datensicherheit – die Arbeitswelt verändert sich und mit ihr die Anforderungen an den Arbeits- und Gesundheitsschutz, wie Michael Kloth in seinem Keynote-Vortrag skizzierte. „Die Zeiten der alten technischen Sicherheitsfachkraft sind vorbei“, betonte das Vorstandsmitglied im VDSI Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit. Auf der Schwelle zur Industrie 4.0, der allumfassenden Vernetzung auf Basis cyberphysischer Systeme, seien nunmehr „Manager für Sicherheit und Gesundheit“ gefragt, die sich mit System- und Prozessmanagement beschäftigten. „Arbeitssicherheit muss auch in die Algorithmen der Software integriert werden – ob wir wollen oder nicht. Ohne Security gibt es keine Safety“, betonte Kloth. Dies gelinge allerdings nur mit einer weiteren Qualifizierung der Sicherheitsfachkräfte.
 
Beschäftigung 4.0: Bewegungsmangel und Selbstgefährdung als Risiken
 
Auch die Beschäftigungsformen änderten sich drastisch: Immer mehr Menschen arbeiteten von unterwegs oder zu Hause. Nachteil dieser räumlichen und zeitlichen Entgrenzung von Arbeit, die auf der anderen Seite Handlungs- und Entscheidungsfreiheit mit sich brächte, sei ein Mangel an Bewegung und die Gefahr, über Gebühr zu arbeiten und ständig die eigenen Leistungsgrenzen zu überschreiten. „Bei der Arbeit 4.0 werden die psychischen Belastungen sehr viel stärker in den Vordergrund treten als bisher“, sagte Kloth voraus. Seinen Vortrag beendete er mit einem Appell: „Bislang war es leider so: Der technische Fortschritt ging voran und der Arbeitsschutz hinkte hinterher. Das war zum Teil wie Feuer und Wasser. Sicherheit galt eher als Hemmschuh denn als Chance für positive Veränderungen.“ Dies solle bei den aktuellen Umwälzungen möglichst anders laufen. „Arbeit 4.0 fordert die Akteure und Beschäftigten heraus. Das sollten wir von Anfang an begleiten und uns einbringen.“
 
Betriebliche Praxis überrollt Wissenschaft und Gesetzgebung
 
„Der Zug rollt gerade erst los“, befand Prof. Dr. Jochen Prümper bei der Präsentation der neuen Studie „Mobiles Arbeiten“ in der Pressekonferenz zum Messe-Duo PERSONAL2016 Süd – Corporate Health Convention. Doch schon jetzt seien Wissenschaft und Rechtsprechung überholt, bemängelt der Wirtschafts- und Organisationspsychologe an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW Berlin). „Das Arbeitsschutzgesetz ist circa 20 Jahre alt“, gab er zu bedenken. Für digitale Mobilarbeit, die laut der neuen Studie bereits in der Mehrzahl der Betriebe praktiziert werde, fehlten folglich Standards und Richtlinien. „Unternehmen sind schwer verunsichert, auch in Hinblick auf das  Thema virtuelle Führung.“

Nicht Länge, sondern Lage der Arbeitszeit bedenklich

Ein besonders großes Manko bestehe hinsichtlich der Gefährdungsbeurteilung für Mobile Worker. Insbesondere bei der Erfassung psychischer Belastungen gebe es hier enormen Nachholbedarf. „Angesichts der Verbreitung dieser Arbeitsform und des Anstiegs psychischer Erkrankungen ein brisantes Studienergebnis“, unterstrich der Wissenschaftler. Mobile Worker seien dabei weniger durch die Neigung zu Mehrarbeit gefährdet, sondern durch häufige Arbeitseinsätze am Wochenende: „Sonntagsarbeit geht mit einer erhöhten Rate an diagnostizierten Herzerkrankungen einher“, warnte Prof. Prümper. „Nicht die Länge der Arbeitszeit ist bedenklich, sondern ihre Lage.“ Um gut mit mobiler Arbeit zu fahren, benötigten Mitarbeiter deshalb vor allem eins: Selbstkompetenz.

Psychische Erkrankungen: Offene Atmosphäre schaffen

„Unternehmen müssen sich entscheiden, ob sie ihre Mitarbeiter bei psychischen Erkrankungen versorgen wollen oder ob sie auf Prävention setzen“, erklärte Prof. Dr. Ulrich Hegerl. Problematisch sei vor allem der Umgang mit den immer noch tabuisierten Seelenleiden: „Arbeitgeber sollten dafür eine offenere Atmosphäre schaffen und Personalverantwortliche für Gespräche mit Betroffenen schulen“, empfahl der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe in seinem Keynote-Vortrag.

Depression: Urlaub nicht empfehlenswert

Anders als häufig angenommen sei Arbeit meistens nicht die Ursache für die weit verbreitete Erkrankung Depression, sondern wirke eher „depressionsprotektiv“. Aus diesem Grund könnten sich Krankschreibungen bisweilen ungünstig auswirken. Von Urlauben riet der Experte generell ab: „Gerade langes Schlafen oder Ausschlafen kann die Depression verstärken.“ Um in akuten Notfällen wie bei suizidgefährdeten Mitarbeitern handlungsfähig zu bleiben, sollten Unternehmen ein konkretes Vorgehen ausarbeiten.

Im Flow: Anforderungen und Ressourcen in Balance

Positive Aspekte von Arbeit strich auch Prof. Dr. Bertolt Meyer heraus. „Wenn die Anforderungen den Ressourcen entsprechen, haben Mitarbeitende ein Flow-Erlebnis“, erklärte der Professor für Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Technischen Universität Chemnitz. Schwierig werde es erst, wenn die Ressourcen nicht reichten. Ein entscheidender Faktor auch zum Schutz vor Depressionen sei die soziale Unterstützung durch den Chef und eine gute Beziehungsqualität zu den Kollegen. Genau dies sei auch der Haken an mobilen Arbeitsformen: Mobile Worker begegneten ihren Kollegen nur noch selten. „Das Gefühl der sozialen Unterstützung am Arbeitsplatz und das Gefühl der Sinnhaftigkeit nehmen ab“, warnte der Experte.
 
Was bringt das neue Präventionsgesetz?
 
Stoff für mehrere Podiumsdiskussionen auf der Messe lieferte das neue Präventionsgesetz: „Ich glaube es bringt etwas, aber letztendlich ist es nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, wertete Oliver Timo Henssler (vitaliberty) die Gesetzesvorlage in der Diskussionsrunde der Zeitschrift health@work. Nur ein Prozent der Ausgaben der Krankenversicherungen stünden zur Verfügung – eine „erschreckend geringe Summe.“ Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen fielen durch das Raster. Als „in jedem Fall positives Signal“ bezeichnete Frank Laubscher (IKK Südwest) den Vorstoß der Regierung, während Nils Langer (B.A.D Gesundheitsvorsorge und Sicherheitstechnik) sich für einen Abbau der Bürokratie aussprach: Das Problem ist, dass manche Angebote noch nicht zertifiziert sind.“ In diesem Fall ließen sich auch keine Gelder dafür beantragen.
 
Individuell zugeschnitten: Von der Tanzschule bis zum Dienstrad
 
Viele konkrete Angebote, so etwa zur Lösung des weitverbreiteten Bewegungsmangels, fanden die Messebesucher direkt vor Ort: Einen flexiblen Zugang zu diversen Sport- und Fitnesseinrichtungen bietet zum Beispiel GymPass: „Wir sind nicht nur in Deutschland, sondern international vertreten. Das ist interessant für Firmen, deren Mitarbeiter regelmäßig auf Dienstreisen oder bei Arbeitseinsätzen im Ausland sind, erklärte Michal Paciorek, Country Manager von GymPass Deutschland GmbH, den Vorzug dieses Modells. Das schnell wachsende Unternehmen ist aktuell in sechs Ländern und mit weit über 10.000 Partner-Studios vertreten – darunter auch Tanzschulen, Yogastudios oder Buggy Fit – Fitnessangebote für Mütter mit Kind. „Demnächst werden acht weitere Länder hinzukommen“, stellte Paciorek in Aussicht.
 
Die freie Auswahl in Sachen Dienstrad bietet Bastian Krause: „Das geht bei uns mit jedem Händler“, betont der Geschäftsführer des Start-ups Bikeleasing. Der Vorteil: „Durch die Gehaltsumwandlung zahlt der Mitarbeiter mit seinem Bruttogehalt nur noch den Netto-Fahrradwert.“ Dabei übernimmt Bikeleasing den gesamten administrativen Ablauf.
 
Nächster Messetermin am 9. und 10. Mai 2017 in Halle 1
 
Im nächsten Jahr bezieht die Corporate Health Convention am 9. und 10. Mai 2017 zusammen mit der PERSONAL2017 Süd Halle 1 der Messe Stuttgart. „Nach dem erfolgreichen Verlauf der 6. Fachmesse für betriebliche Gesundheitsförderung und Demografie freuen wir uns schon jetzt auf die Fortsetzung in der großen gemeinsamen Halle direkt am Eingang Ost“, erklärt Projektleiter Sebastian Theis von spring Messe Management.