Public Manager
11.01.2016 | Energie

Stadt aus Eisen unter Strom - Festivalgelände wird Energielieferant

Das Gelände der Ferropolis bei Gräfenhainichen ist riesiges Freiluftmuseum und Veranstaltungsareal in einem. Gleichzeitig ist es ein Reallabor für Erneuerbare Energien und regionale Selbstversorgung – bereits jetzt produziert der Ort eigenen Strom. Was in Zukunft für Ferropolis möglich ist, zeigen die detaillierten Ergebnisse eines neuen Simulationsmodells des Dienstleisters Tilia.

Zu DDR-Zeiten zerwühlten Maschinen eines Braunkohletagebaus die Landschaft bei Gräfenhainichen. Heute erstreckt sich an gleicher Stelle der idyllische Gremminer See. Auf einer seiner Halbinseln liegt das Gelände Ferropolis, die „Stadt aus Eisen“. In dem Areal sind einige der imposanten Baggerkolosse früherer Tagebauzeiten ausgestellt. Außerdem ist Ferropolis ein fast schon legendärer Veranstaltungsort. Neben Konzerten gehen hier im Sommer tagelange Festivals mit bis zu 25.000 Besuchern über die Bühne.

„Während einiger dieser Sommernächte wird in Ferropolis so viel Strom verbraucht, wie ihn eine mittelgroße Stadt über mehrere Tage benötigt“, berichtet Thies Schröder, Geschäftsführer von Ferropolis. „Dieser Ort, der schon immer für Energiegewinnung steht, muss nach unserer Überzeugung auch künftig ein Impulsgeber in Sachen Energie sein. Hinzu kommen Klima- und Umweltschutz als Gebot der Stunde. Deshalb haben wir im Jahr 2011 als ersten Schritt eine Solaranlage auf unseren Dächern gebaut.“

Die Photovoltaikanlage erbringt eine Leistung von 210 kWp, kann damit rein rechnerisch drei Festivals von der Größe des „Melt!“ mit insgesamt rund 60.000 Besuchern versorgen. Über das Jahr betrachtet, deckt die Stadt aus Eisen damit ihren Strombedarf zu über 60 Prozent selbst. Der Haken: Angebot und Nachfrage finden nicht zueinander – Ferropolis ist ein Ort mit extremem Lastprofil. An sonnigen Tagen wird erheblich mehr Strom produziert, als das Areal verbraucht. In Festivalnächten muss hingegen der benötigte Strom komplett aus dem Netz bezogen werden. Thies Schröder: „In Zukunft wollen wir uns vollständig mit regenerativem Strom selbst versorgen. Die große Herausforderung ist es, sich diesem Ziel – wirtschaftlich sinnvoll – Stück für Stück anzunähern.“

Wie viel Ausbau macht Sinn?

In welcher Form und Menge lohnen sich Investitionen in den Ausbau Erneuerbarer Energien für Ferropolis? Und kann der stark schwankende Stromverbrauch mit Optionen wie Lastausgleich oder Stromspeichern wirtschaftlich aufgefangen werden?

„Zur Klärung dieser Fragen wurden wir beauftragt, eine Datenbasis für künftige Entscheidungen zu liefern und die Ideenfindung voranzutreiben“, sagt Christophe Hug, Vorsitzender Geschäftsführer des Leipziger Dienstleisters Tilia. Dieser Auftrag war Teil eines durch das Land Sachsen-Anhalt geförderten Projektes zur Entwicklung einer regionalen Energieperspektive. „Dafür haben wir ein neues Rechenmodell entwickelt und auf Ferropolis und die umliegende Region angewandt. Mit ihm lässt sich ein Blick auf die vorhandenen Erzeugungspotenziale und lokalen Energiebedarfe werfen – und das stundengenau. Wir können verschiedene Ausbauszenarien der Erneuerbaren Energien simulieren, mit dem Lastgang der Region vergleichen und auch Ladezustände von möglichen Stromspeichern berechnen. Gleichzeitig wird das gewählte Szenario wirtschaftlich bewertet. Im Ergebnis unserer Simulationen sehen wir erzeugungsseitig für Ferropolis in der Windenergie mittelfristig die beste Option.“

Im Modell verglich Tilia das Zusammenspiel unterschiedlicher Ausbaugrade von vier Arten Erneuerbaren Energien für Ferropolis: Solarenergie, Windenergie, Bioenergie und Geothermie. Zuerst identifizierte das Team die örtlichen Energiepotentiale mit einem Geoinformationssystem (GIS) – die Weiterentwicklung der klassischen Landkarte. Martin-Joseph Hloucal, zuständiger Projektmanager von Tilia erläutert: „Mit dieser Methode zeigt sich beispielsweise, welche Gebäude der Ferropolis für Photovoltaik infrage kommen und welche nicht. Denn wir sehen die Gebäudelage sowie ihre Ausrichtung und Neigung.“ Damit klärten die Experten, wie viel Strom und Wärme jeder der vier Träger Erneuerbarer Energien nach dem Ausbau in Ferropolis überhaupt bereitstellen könnte. Das Ergebnis zeigte große Potenziale zur Produktion von regenerativem Strom und Wärme.

Die Windkraft liegt vorn

Im nächsten Schritt musste der Verbrauch in die Simulation aufgenommen werden. Wie lassen sich angesichts des extremen Lastprofils von Ferropolis Produktion und Nachfrage angleichen? Eine möglicher Weg: lokale Unternehmen für einen Lastausgleich gewinnen. Daher wurden Betriebe ermittelt, die für eine solche Lösung infrage kämen. Auf dieser Basis konnten verschiedene Szenarien für einen Lastausgleich aufgestellt und simuliert werden. Das Resultat: ein Lastausgleich ist technisch möglich, würde beim gegenwärtigen Strommarktgefüge für beide Seiten jedoch keine wirtschaftlichen Anreize bieten.

„Eine Alternative zum Lastausgleich ist die Speicherlösung“, so Thies Schröder. „An einer solchen Lösung haben wir seit 2012 gearbeitet. Mittlerweile ist uns klar: eine Insellösung ist für Ferropolis nicht sinnvoll. Das haben auch die Ergebnisse der Simulation untermauert.“ Wegen des Lastgangs der Ferropolis wäre ein Speicher nur selten genutzt. Das würde zu hohen spezifischen Kosten führen und Speicher der heutigen Bauart unwirtschaftlich machen. „Der kostengünstigste Ausbau der Erneuerbaren Energien erfolgt in der Simulation für Ferropolis allein in allen Konstellationen jeweils ohne Stromspeicher“, resümiert Martin-Joseph Hloucal.

Im Nutzungsraum Gräfenhainichen und Ferropolis ergeben die finalen Ergebnisse der Simulation eine klare Handlungsempfehlung für den Ausbau der Windenergie – vorerst ohne Speicher und Lastausgleich. „Auf dem Gebiet von Ferropolis gibt es Potenzial für zwei große Windenergieanlagen. Nachdem mit dem Modell alle Alternativen gegeneinander abgewogen und verschiedene Szenarien simuliert wurden, ist der Ausbau dieser Potenziale zu empfehlen“, so Martin-Joseph Hloucal. „Dadurch wird der Autarkiegrad nicht nur bilanziell, sondern auch stundenweise nennenswert erhöht. Die erzeugten Überschussmengen könnten technisch gesehen im Gebiet Gräfenhainichen komplett verbraucht werden.“ Weiterhin könne die Photovoltaik weiter ausgebaut werden – dies wäre im besten Fall mit einer lokalen Vermarktung des erzeugten Stromes zu verbinden. Hiermit näherte man sich auf lokaler Ebene einer Energiewende mit weniger Netzausbau.

Smarte Ideen für das Reallabor

Was ist darüber hinaus in Ferropolis möglich? Die Ferropolis GmbH ist Mitglied des Vereins „Energieavantgarde Sachsen-Anhalt“ und versteht sich zugleich als Reallabor für Erneuerbare Energien. Hier soll die Energiewende in all ihren Facetten veranschaulicht werden. Und so werden in der Studie der Tilia GmbH auch unkonventionelle Ideen für die Zukunft diskutiert.

Beispielsweise könnte Ferropolis künftig die bisher ungenutzte Wasserfläche des Gremminer Sees für eine schwimmende Photovoltaikanlage nutzen. Diese Konstruktion hat Vorteile: Durch Reflexionen an der Wasseroberfläche und bessere Kühlung liegt der Ertrag einer solche Anlage um bis zu 4 Prozent über dem von Landanlagen. Zudem kann die Photovoltaikanlage stets zur Sonne ausgerichtet werden. Martin-Joseph Hloucal: „Technisch ist eine Wasserflächenanlage umsetzbar, jedoch unter heutigen Voraussetzungen wahrscheinlich nicht wirtschaftlich. Denn die Mehrkosten durch die zusätzlichen konstruktiven Anforderungen wegen Wellengang und Eis sowie Schutzeinrichtungen für die Stromleitungen würden durch den Mehrertrag nicht gedeckt.“

Im Gremminer See steckt ein beträchtliches Wärmepotenzial. Nach den Berechnungen von Tilia würde das nachhaltig nutzbare Wärmepotenzial mindestens für die Beheizung von 4.000 bis 5.000 Einfamilienhäusern ausreichen. Die Wärme könnte auch in einem Badeschiff als Attraktion und Besuchermagnet genutzt werden, so eine weitere in der Studie aufgegriffene Idee. Die Wärme für das Badeschiff würde dabei mittels Wärmepumpen aus dem See gewonnen werden. Zudem kann der Betrieb der Wärmepumpen teilweise auf die aktuelle Stromsituation abgestimmt werden: wenn viel regenerative Energie vorhanden ist, wird aufgeheizt, um Phasen von geringem regenerativem Energieangebot zu überbrücken.

Vor einer weiteren Planung muss auch hier der Bedarf ermittelt und der wirtschaftliche Betrieb überschlagen werden. Ferropolis setzt auf Synergien mit benachbarten Nutzern. „Es gibt viele Wege, die Energiewende auszugestalten – integrierte und innovative Lösungen sind gefragt“, sagt Thies Schröder. „Und wir sind uns sicher: Ferropolis wird ein Schau-Ort für diese Innovationen sein, mit jährlich hunderttausenden Besuchern und noch viel mehr Fans – ein Hochspannungs-Ort.“ 

Die Ferropolis GmbH

Ferropolis ist ein weltweit einzigartiges Freiluftmuseum, das an 150 Jahre Braunkohleförderung in Mitteldeutschland erinnert. Fünf vor der Verschrottung bewahrte Braunkohle-Bagger erinnern hier am Stadtrand Gräfenhainichens an eine untergegangene Industrieepoche. Auf einer Halbinsel, inmitten des Gremminer Sees, bilden diese 7.000 Tonnen Stahl ein begeh- und erlebbares Industriemuseum und bieten Veranstaltungen mit bis zu 25.000 Zuschauern ein außergewöhnliches Ambiente.

Die Ferropolis GmbH, eine Gesellschaft der Stadt Gräfenhainichen, ist für die Entwicklung und den täglichen Betrieb des Ferropolis-Geländes zuständig. Zusammen mit Partnern wie der Stiftung Bauhaus Dessau, mehreren Stadtwerken und Kommunen und Bürgern initiierte Ferropolis auch die Energieavantgarde Anhalt e.V.


Die Tilia GmbH – Impulsgeber der Energiewende

Seit 2009 unterstützt die Tilia GmbH ihre kommunalen und privatwirtschaftlichen Kunden national und international in den Feldern der Energie- und Wasserversorgung sowie dem Stoffstrommanagement. Je nach Wunsch reicht das Leistungsspektrum von der fundierten Analyse über die Planung bis hin zur gemeinsamen Umsetzung. Das interdisziplinäre Team aus Ingenieuren und Betriebswirten ist mit seinem Erfahrungsschatz zugleich Impulsgeber und übernimmt auch wirtschaftliche Verantwortung in der Realisierungsphase. Für die Ferropolis GmbH entwickelte das Team um Projektleiter Martin-Joseph Hloucal eine räumlich abgestufte GIS-gestützten Potentialanalyse für Erneuerbare Energieträger und die Bewertung einer weitgehend auf lokalen Ressourcen basierenden Stromversorgung.


Das Rechenmodell – jede Kilowattstunde des Stromjahres sichtbar machen

In dem durch die Tilia GmbH entwickelten Rechenmodell werden der Strombedarf und die Stromerzeugung eines fiktiven Jahres gegenübergestellt um Erkenntnisse z.B. über den möglichen Selbstversorgungsgrad zu gewinnen. Ausgehend vom derzeitigen Lastprofil der Ferropolis GmbH werden zudem verschiedene Szenarien für den zukünftigen Strombedarf berücksichtigt. Für jedes der folgenden Module werden stündliche Daten generiert.

Stromerzeugung

Die stündlichen Einspeisungen durch Windenergie, Photovoltaik, Biomasse-Kraft-Wärme-Kopplung sowie verbleibender Bezug aus dem Stromnetz werden simuliert.

Strombedarf

Haushalte, Gewerbe, Industriebetriebe werden durch reale Daten oder Standardlastprofile berücksichtigt.

Speicher

Vorhandene oder zukünftige elektrische Speicher werden mit Ladeleistung, Speicherkapazität, Selbstentladung und Kosten berücksichtigt. Dadurch können verschiedene Technologien simuliert werden.

Netzbezug & -einspeisung

Für jede Stunde wird ermittelt, ob Strom ins Netz abgegeben wird oder der Strombedarf aus dem Netz gedeckt wird.

Kosten

Die Kosten der Erneuerbaren Energien werden technologiespezifisch berücksichtigt. Zudem werden unterschiedliche Preise für Netzeinspeisung und Netzbezug angesetzt.

Emissionen

Für alle Energieträger werden die technologiespezifischen Emissionen in Form von CO2-Äquivalenten bilanziert.

Autarkiegrad

In jeder Stunde des Jahres wird der Grad der Selbstversorgung aus lokalen Energieträgern berechnet. Im Unterschied zum oftmals angegebenen Autarkiegrad in der Jahresbilanz wird dadurch der Grad der tatsächlich technisch möglichen Selbstversorgung bestimmt.

Der resultierende Strombedarf oder Stromüberschuss wird für jede Stunde eines fiktiven Jahres bilanziert und als Ergebnisgrößen die Stromkosten, die Einsparung an CO2-Emissionen sowie der Grad der lokalen Selbstversorgung errechnet. So lassen sich verschiedene Energiemixe realitätsnah prognostizieren und objektiv vergleichen.

Das entwickelte Modell ist auch für andere Untersuchungsschwerpunkte anpassbar. Die Art und Leistung der Energieträger, die Lastgänge sowie die Ergebnisgrößen können leicht verändert werden. Damit bietet das Modell auch für andere Kunden durch die Abbildung verschiedener Szenarien eine objektive Entscheidungsunterstützung.